Die Luft in der Bodega unter der glühenden Sonne Jerez de la Fronteras war eine ehrwürdige Mischung aus staubiger Erde, süßem Most und den flüchtigen Dämpfen jahrhundertealter Geschichte. Bodeguero Ricardo Belmonto, ein Mann, dessen Kleidung nach gereiftem Wein duftete und dessen Leidenschaft für das rubinrote Elixier nur noch von seiner pedantischen Neugier übertroffen wurde, bewegte sich zwischen den Reihen der gigantischen Fässer, als wären sie seine eigene Familie. Jedes Solera-System, jede Pipette, jeder Tropfen Wein war ihm vertraut – fast jeder.
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Tief im ältesten Teil der Bodega, wo das Licht der wenigen Gaslampen kaum hingelangte und die Schatten tanzten wie Flamenco-Tänzer in Trance, stand ein Fass, das Ricardo seit Jahren faszinierte. Es war ein Koloss aus dunklem Holz, umschlungen von rostigen Eisenbändern, und trug eine Inschrift, die schon Generationen vor ihm in das Holz geschnitzt worden war:
»Nur wer von der Sünde rein, trinke diesen Wein.«
Darunter, fast verblasst, aber dennoch lesbar, prangte der unmissverständliche Hinweis:
»Der Wein ist Mein. Gezeichnet Duque von Medina Sidonia.«
Ricardo hatte unzählige Nächte über dieser Zeile gegrübelt. Was für ein Wein mochte das sein, der eine solche Warnung verdiente? Waren die Trauben von besonderer Auslese? Ein Elixier der ewigen Jugend? Ein Trunk von einer anderen Welt? Seine Neugier nagte wie Termiten an seinem Innersten. Und so fasste er einen Entschluss. Er musste den Wein probieren. Aber nicht, ohne die Bedingung der Inschrift zu erfüllen.
Am nächsten Samstag, ein Tag, so gleißend hell, dass er dem schattigen Weinkeller so fremd war, fand sich Bodeguero Ricardo im Beichtstuhl der Kathedrale von Jerez wieder. Mit ernster Miene und fester Stimme legte er alle Sünden offen, die er im Laufe seines Lebens begangen hatte: die gestohlenen Orangen als Kind, die kleinen Notlügen seiner Frau Elena gegenüber, die heimlich angetrunkenen Weinproben, bei denen mehr in der Kehle als in den Ausguss floss. Er dachte an alles, wirklich an alles. Er tat aufrichtig Buße und sprach mehrere Vater Unser. Der Priester erteilte ihm die Absolution, und Ricardo verließ den Beichtstuhl mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Reinheit, das er seit seiner ersten Kommunion nicht mehr gekannt hatte und die er noch obendrein mit zehn Pesetas in den Opferstock verbriefte.
Nach Einbruch der Dämmerung ging Ricardo zurück in die Bodega. Es packte ihn eine fast fieberhafte Erregung. Ricardo hatte seine Aufgabe erfüllt. Er war rein und über jeden Makel erhaben.
Vorsichtig löste er den verwitterten Zapfhahn des Fasses. Ein tiefer, fast zäher, rubinroter Wein ergoss sich in seine bereitgehaltene Copa. Sogleich stieg ein opulenter, vielschichtiger Duft auf, der nach reifen Früchten, edlem Holz und etwas geheimnisvoll Uraltem und Mächtigem roch.
Ricardo hob das Glas, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Er hob es zum Mund, sog die wohlduftenden Aromen tief ein, benetzte seine Lippen und nippte nur so viel, dass nicht mehr als ein kleiner Tropfen spielend über seine Zunge wanderte. Doch noch bevor das Schlückchen durch seinen Körper floss, durchzog ein eisiger Windstoß die Bodega, der die Flamme der Gaslampe flackern ließ. Aus den Schatten löste sich eine Gestalt, kaum sichtbar, schemenhaft, die nach feuchtem Stein und dem Moder vergangener Jahrhunderte stank. Ricardo erblasste. Er erkannte die Gestalt wieder, die sonst auf einem Gemälde im großen Herrenhaus über dem Kamin thronte. Es war zweifelsohne der Duque, der verstorbene Herzog von Medina Sidonia selbst. Seine Augen glühten in der Dunkelheit, und in seiner knochigen Hand hielt er die alte, reich verzierte Pistole aus der Glasvitrine mit Sammlerstücken der jahrhundertealten Familiengeschichte.
»Du willst rein sein von jeglicher Sünde?«, zürnte der Geist bedrohlich, das wie das Donnern eines Unwetters in den Bergen der Sierra de Cádiz durch den Keller halte.
Ricardo nickte eifrig, mit dem Glas in der zitternden Hand. »Ja, das bin ich. Gott ist mein Zeuge. Ich habe gebeichtet, alle meine Sünden abgelegt.«
Der Geist schwebte näher, sein durchscheinender Finger zeigte auf das Fass. »Und das hier? Was steht hier geschrieben? Wem gehört dieser Wein?«
Ein Schock fuhr durch Ricardos Körper. Er starrte auf die Inschrift. »Der Wein ist Mein. Gezeichnet der Duque.« Die Worte tanzten vor seinen Augen. In seiner leidenschaftlichen Beichte hatte er an all seine persönlichen Verfehlungen gedacht, an jede noch so kleine menschliche Schwäche. Aber er hatte die offensichtlichste, die gravierendste Sünde nicht gesehen – die des Augenblicks. Dieser Atemzug in der die Tat zur Sünde erst wird.
Der Wein gehörte nicht ihm. Es war der Wein des Duques. Und Ricardo hatte von dem Wein getrunken – ohne jegliche Billigung.
Der Duque lächelte, ein kalter, leerer Ausdruck.
»No estás limpio, Bodeguero. Una ofensa no has considerado. Un pecado contra la propiedad, contra el orden, contra la lealtad. El vino es mío. La muerte es sólo tuya.«
»Du bist nicht rein, Bodeguero. Eine Sünde hast du nicht bedacht. Eine Sünde gegen das Eigentum, gegen die Ordnung, gegen die Treue. Der Wein ist Mein. Dein ist der Tod allein.«
Der Duque hob langsam die alte Pistole. Die Augen des Bodegueros weiteten sich in Panik und Erkenntnis.
Es war der Preis für den Wein – sein Tod.